Weihnachtsgeschichte

Alles begann an einem erschreckend typischen Wintertag. Die Kälte hatte schon relativ früh im Jahr Anfang November eingesetzt und mit ihr kam der Schnee. Es schneite große, dicke Flocken, die sich sanft, aber unbeirrbar auf jede erdenkliche Oberfläche legten und sie unter sich begruben. Dabei schien es, als würden sie alle Geräusche absorbieren. Denn ich hörte lediglich das feine Knirschen meiner Stiefel auf dem weiß gepuderten Asphalt, als ich durch die sonst so hektische Innenstadt Blackhavens wanderte.

 

Ich hatte mir vorgenommen, die nähere Umgebung rund um den Ort auszukundschaften, wie den Wald im Süden und Norden und die weiten Felder in der Nähe der verlassenen Eisenminen. Dort hatte ich diese unheimliche Stille eher vermutet als hier, wo die Einwohner durch einen Zauber vor allem Bösen beschützt wurden. Damals kam mir das noch nicht verdächtig vor. Wesentlich spannender waren da die urbanen Legenden über ein verfluchtes Herrenhaus inmitten von seit Jahrzehnten vertrockneten Weizenhalmen, die nie zu verfallen schienen. Als wäre an dieser Stelle die Zeit eingefroren und hätte das Getreide für die Ewigkeit konserviert.

 

Das war zumindest das Bild, das sich mir bot. Der Schnee, so aufdringlich er auch war, konnte den Pflanzen kaum etwas anhaben. Und auch das Gebäude selbst blieb bis auf eine hauchdünne Schicht weitestgehend verschont. Es verfügte über drei Stockwerke, wobei das oberste augenscheinlich der Dachboden war. Ein Eckturm ragte an der linken Vorderseite in die Höhe und flankierte den tief liegenden, überdachten Hauseingang, der über eine breite Treppe zugänglich war. Die hohen, schmalen Fenster waren alle intakt, obwohl man kaum hindurchsehen konnte, so verschmutzt waren sie von Staub und Dreck. Die ursprüngliche Außenfarbe ließ sich kaum mehr bestimmen, sie war über die Jahrhunderte fast verblichen. Ich vermutete aber, dass sie einmal dunkelrot gewesen war. Das Erstaunlichste war jedoch, dass es weder der Putz gewagt hatte, auch nur an einer Stelle abzubröckeln noch der giftige Efeu der Gegend den Mut gefunden hatte, sich an der Hauswand hinaufzuranken, wie es viel zu häufig in Blackhaven mit verlassenen Bauwerken geschah.

 

Kurz gesagt: Ich war auf den ersten Blick vollkommen fasziniert von dem Haus. Dennoch brach ich an diesem Tag nicht dort ein, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte. Es war, als flüsterte mir eine innere Stimme zu, dass ich mich erst besser vorbereiten müsse.

 

Und so geschah es, allerdings komplett anders, als ich so etwas sonst anging. Etwa eine Woche lang spukte das Gebäude regelrecht in meinem Kopf herum, verfolgte mich in meine Träume hinein und schien mich regelrecht zu sich zu rufen. Und noch während ich rechierte und schließlich den Besitzer ausfindig machte, um ihn nach unbekannten Details zur Hintergrundgeschichte zu befragen, reifte ein Entschluss in mir heran, den ich weder ausblenden noch völlig verwerfen konnte. Schlussendlich kaufte ich das Haus, ohne es je betreten zu haben.

 

Mein Verstand schimpfte mich einen kompletten Vollidioten, nur mein Stolz hielt zu mir und riet mir, diese offensichtliche Fehlinvestion erst einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Ausgerüstet mit nahezu allem, was man im Kampf gegen übernatürliche Wesen brauchen konnte, kämpfte ich mich schwerbepackt die Stufen bis zur Haustür hinauf und schloss sie ohne die geringste Mühe auf.

 

Ich hatte so ziemlich alles erwartet, was man von einem Spukhaus erwarten konnte: Poltergeister, sich verschiebende Wände und Türen, Schwarze Männer in Schränken und unter Betten, verschwommene Schemen von Gespenstern, die unvermittelt aus dem Mauerwerk hervorbrachen, Kobolde, die alles taten, um unerwünschte Gäste zu vergraulen, eine Ratteninvasion auf dem Dachboden... Nichts davon begegnete mir im Inneren. Der Boden war staubbedeckt, die alten Möbel und Teppiche, die Stufen und das Geländer der Treppe in den ersten Stock abgegriffen und ausgetreten und dicke Spinnweben bevölkerten jede erdenkliche Ecke. Aber angegriffen wurde ich nicht.

 

Und so blieb es, als ich damit begann, aufzuräumen, zu reparieren, zu erneuern, neu zu streichen, zu putzen und giftige Riesenspinnen zu verscheuchen. Gut, hin und wieder riss mich ein gellender Schrei aus meinem Tun, dessen Ursprung ich nie ermitteln konnte. Und ab und zu bluteten die Wände oder es verschwanden Gegenstände und tauchten woanders oder nie wieder auf. Und nachdem ich den Kamin im Wohnzimmer instand gesetzt hatte, fingen Dinge in den anderen Räumen ohne Grund Feuer und verbrannten zu Asche, ohne auf den umliegenden Möbeln auch nur eine Rußfleck zu hinterlassen. Alles Gegebenheiten, mit denen ich mich arrangieren konnte.

 

Bis die Träume begannen. Ich befand mich immer im Wald auf der Suche nach etwas, das von enormer Wichtigkeit war. Als hätte ich etwas von hohem Wert verloren oder bräuchte es dringend, um mein Leben zu retten. Ich irrte durch das dichte Gestrüpp der Sträucher und tiefhängenden Äste, über aus der Erde ragende Wurzeln und nasses rutschiges Laub. Plötzlich befand ich mich auf einer Lichtung, Nebel wallte vor mir auf und trübte meine Sicht. Ich wusste instinktiv, dass ich endlich am Ziel war, und wachte auf. Doch was ich gesucht hatte, war mir immer noch nicht klar.

 

Bereits nach der dritten Nacht ertappte ich mich dabei, dass ich mich in der näheren Umgebung genauer umsah als zuvor. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich immer ausgiebigere Wanderungen durch die Wälder ringsum unternahm. Nach der siebten Nacht stand ich eines Morgens unvermittelt auf der Lichtung aus meinem Traum. Der Nebel war verschwunden und die Szenerie wirkte wesentlich weniger unwirklich, als ich sie in Erinnerung hatte. So hatte ich einen ungetrübten Blick auf das, was ich hier finden sollte.

 

Es war eine Tanne, kaum zwei Meter hoch und damit nicht sehr groß für ihre Art. Aber sie war prächtig: Ein gerader Wuchs, keine kahlen Zweige und auslandende gesunde Äste. Es war ein perfekter Weihnachtsbaum, aber nichts, was den Aufwand wert gewesen wäre, den man betrieben hatte, um mich hierher zu locken. Ich suchte daher die ganze Umgebung gründlich ab, fand jedoch rein gar nichts von Interesse. Dafür zog es mich immer wieder wie magisch zu meinem Ausgangspunkt zurück, bis die Nadeln plötzlich unnatürlich zu leuchten begannen. Auch wenn es befremdlich auf mich wirkte, die Tanne schien der Grund zu sein, weshalb ich hier war.

 

Es dauerte mehrere Stunden, bis ich den Stamm freigelegt und den Baum gefällt hatte. Ich hätte mir mit Hilfe von Zauberei diese Mühen erheblich erleichtern können, tat es allerdings nicht. Ich wollte meine Kräfte lieber dafür nutzen, um meine Errungenschaft schwebend nach Hause zu transportieren. Dort schaffte ich es gerade noch, das gute Stück im geräumigen Wohnzimmer abzulegen, ehe ich todmüde ins Bett fiel. Erst nachdem ich am nächsten Morgen einen Metallständer besorgt hatte, konnte ich das Gewächs aufstellen.

 

Anfangs sträubte ich mich gegen das, was man mit mir vorhatte. Ich sah keinen Grund darin, Weihnachten zu feiern, da ich kaum in der Stimmung dazu war. Außerdem war eine von Dämonen und schwarzen Hexern bewohnmte Stadt wie Blackhaven nicht unbedingt der richtige Ort, um ein christliches Fest zu begehen. Zumindest keines, was so positiv besetzt war. Tief im Inneren wusste ich natürlich, dass ich bloß Angst hatte, die Feiertage allein zu verbringen. Oder irgendjemanden, den ich liebte, an das Böse zu verlieren, weil ich feierte und deshalb nicht wachsam genug war. Trotzdem starrte ich viel zu oft auf den Baum.

 

Eines Morgens steckte plötzlich ein silberner Stern oben auf der Spitze. Ich wusste nicht, woher er stammte, doch ich wusste genau, was er mir sagen sollte. Anfangs wollte ich mich noch sträuben, einfach aus einer Trotzreaktion heraus. Dann schaltete sich mein Verstand ein. Ich hatte diese Tanne gefällt, sie ihrem natürlichen Lebensraum entrissen und hierher gebracht und nun wollte ich sie nicht einmal schmücken. Und ehe ich es mir anders überlegen konnte, hatte ich einen Entschluss gefasst und lief in die Stadt, um einzukaufen. Entgegen meiner Überzeugung fand ich dort alles, was ich brauchte, und sogar einiges mehr.

 

Ich muss gestehen, dass es mir schwerfiel aufzuhören, als ich ersteinmal begonnen hatte zu dekorieren. Erinnerungen an die schönen Weihnachtsfeste aus meiner Kindheit stiegen in mir hoch, der gefüllte Truthahn meiner Mutter, das Schmücken des Baumes zusammen mit meiner Grandma und die Geschichten, die mein Vater uns am Abend an Christmas Eve vorgelesen hatte. Einzig das Haus stoppte mich in meinem Wahn und zeigte mir auf sehr drastische Art und Weise, was ihm gefiel und was nicht.

 

Erst am Morgen des vierundzwanzigsten Dezember ging mir auf, dass ich die Feierlichkeiten wohl allein würde begehen müssen. Ich hatte mich von meinen Freunden zurückgezogen, nach den ganzen tiefgreifenden Ereignissen der letzten Zeit. Ich war einfach abgetaucht, ohne zu verraten, wohin. Natürlich gab es Mittel und Wege, mich aufzuspüren, wenn man es darauf anlegte, doch dazu musste man erst einmal bereit sein. Und ob sie das waren, nachdem ich sie womöglich schwer vor den Kopf gestoßen hatte mit meiner Flucht, wusste ich nicht.

 

Um mich von diesen trüben Gedanken abzulenken, bereitete ich das tradionelle Weihnachtsessen vor. Es war wie ein Zwang, obwohl ich mir sicher war, dass ich wahrscheinlich über die Hälfte würde wegschmeißen müssen. Aber ich wollte meine Großmutter ehren, die mir immer eingeschärft hatte, dass wenn man Weihnachten aufgab, das Böse schon gewonnen hatte.

 

Am nächsten Morgen wurde ich kurz nach Sonnenaufgang unsanft durch lautes Pochen an der Haustür geweckt. Völlig verschlafen wankte ich die Treppe nach unten und betete, dass es kein höflicher Dämon war, der mich besuchte, da ich kaum in der Lage war, ihn abzuwehren. Meine Gebete wurden erhört, auch wenn die Realität nur geringfügig besser war.

 

„Ich hoffe doch, mein Geschenk ist das großartigste und einfallsreichste auf der ganzen Welt, so stark wie du mich die letzten Wochen abgeschirmt hast.“ Ethans vorwurfsvoller Blick hätte nicht vernichender sein können. Nur Sekunden später lugte er neugierig in das Wohnzimmer hinein, dessen Inneres man von der Tür aus gut erkennen konnte.

 

Ergeben trat ich ein paar Schritte zurück, um ihn hereinzulassen. Ich wollte zwar keinen Ärger über die Feiertage, aber manche Freunde konnte man sich eben nicht aussuchen. Und der Umstand, dass er hier war, schürte in mir die Hoffnung, er möge vielleicht sogar in friedlicher Absicht gekommen sein. „Sieh dich ruhig um.“

 

Er trat ein, blieb allerdings im Türrahmen stehen. „Und ich hatte schon befürchtet, dass du es mit Dekorieren maßlos übertrieben hättest.“

 

Ich schluckte einen bissigen Kommentar hinunter und versteifte mich auf die Wahrheit. „Nun, das Haus hatte ein Mitspracherecht. Unerwünschtes ist einfach verschwunden, wurde verbrannt oder zerfiel in seine Einzelteile.“

 

Er hob beide Augenbrauen, ein kleines Zeichen für sein Erstaunen. "Zerfiel?"

 

Ich trat ein paar Schritte zurück, um ihm zu suggerieren, dass er ruhig eintreten konnte. „Ja. Die extragroßen wunderschönen Socken meiner Großmutter. Es wollte sie einfach nicht an seinem Kamin hängen haben.“

 

Ethan rührte sich kein Stück, aber er musste sichtlich ein Grinsen unterdrücken. „Dein neues Heim beweist Geschmack.“

 

Ich verkrampfte mich innerlich. Allem Anschein nach war er lediglich hierhergekommen, um zu überprüfen, ob ich noch lebte, und damit seine Neugier zu befriedigen. Vermutlich flüchtete er, so schnell er konnte, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Ethan hasste solche Gefühlsduseleien wie Weihnachten. Doch eine Chance blieb mir noch. Leicht verzweifelt spielte ich meinen letzten Trumpf aus. „Es gibt selbst gemachten Plumpudding.“

 

Ich sah, wie sich sein linker Mundwinkel ein paar Millimeter hob. Statt einer Antwort kam er bloß auf mich zu und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Ich hätte schwören können, dass das Haus in diesem Moment einen erleichterten Seufzer ausstieß, während wir gemeinsam in Richtung Esszimmer gingen.

 

 

 

 

 

Ende

 

Zwischen den Zeilen

 ® Alle Rechte vorbehalten

© Copyright by Janine Dix